ERP - einmal komplett, bitte!

20.08.2019
Die Anschaffung eines neuen ERP-Systems ist nicht nur eine beträchtliche Investition, sondern hat in der Regel auch Auswirkungen auf Prozesse, Organisation und Arbeitsgewohnheiten im Unternehmen. So wie neue Schuhe zwar toll aussehen, aber am Anfang da und dort noch etwas drücken, braucht auch eine Unternehmenslösung eine gewisse Eingewöhnungszeit bis es mit der Unterstützung schlanker, schneller Geschäftsprozesse und der transparenten Unternehmensführung den digitalen Wohlfühlfaktor bietet. Bis es soweit ist, muss Aufwand geleistet werden und zwar nicht nur in monetärer Form. Auch interne Ressourcen müssen wesentliche Leistungen erbringen.

 

ERP Einkaufsliste für externe Leistungen

Gemäss dem üblichen Vorgehen "Beratung > Evaluation > Implementierung > Unterhalt" werden die meisten für die ERP-Einführung benötigten Leistungen – dazu gehören auch Produkte oder Lizenzen – bei externen Anbietern und Spezialisten eingekauft. Diese Prozess- oder vielmehr Kostenkette setzt sich in der Regel aus folgenden Positionen zusammen:
  • Evaluation, Beratung
    Die Einführung eines ERP-Systems ist ein komplexes, für viele Unternehmen nicht alltägliches Projekt. Bereits die Auswahl des passenden Systems birgt Tücken. Mit einem professionellen Lotsen, sprich Berater, an Bord, holt sich der Kunde Fachwissen ins Haus, damit das stolze Projekt nicht schon an der ersten Klippe zerschellt. Zu den Beratungsdienstleistungen gehören in der Anfangsphase: Erarbeitung der Anforderungen und Ziele, Prozessdokumentation, Erstellung der Ausschreibung, Auswahl möglicher Anbieter, Angebotsauswertung inkl. Vergleich, Durchführung von Präsentationen und Workshops sowie eine Empfehlung.

  • Einmalige Lizenzkosten
    Mit der Installation der Software werden einmalige Lizenzkosten fällig. Damit erhält der Kunden das Recht, dass die vereinbarte Anzahl Mitarbeiter die Lösung nutzen können. Je nach Produkt gibt es verschiedene Lizenzmodelle. Grundsätzlich wird zwischen Concurrent User (Anzahl Benutzer die gleichzeitig mit dem System arbeiten können) und Named User (Anzahl namentlich registrierter Benutzer) unterschieden. Modernere Verrechnungsmodelle funktionieren ohne einmalige Lizenzkosten, sondern auf Monatsbasis oder "pay per use". Damit beim Systemvergleich nicht Äpfel mit Birnen verglichen werden, ist die Berücksichtigung des Funktionsumfangs notwendig; was beim einen System Standard ist, bietet das andere als Option.

  • Jährliche Lizenzgebühren
    Zusätzlich zur einmaligen Lizenzzahlung für das grundsätzliche Nutzungsrecht stellen Software-Anbieter jährlich wiederkehrende Gebühren in Rechnung. Damit finanziert der Anbieter zum grossen Teil seinen Aufwand für den Unterhalt (z. B. Fehlerbehebung, Support) und die Weiterentwicklung der Software. In der Regel werden 15 – 22 % der Basislizenzen pro Jahr fällig. Die damit verbundenen Leistungen variieren teilweise stark und werden in einem separaten Vertrag, dem Service Level Agreement, festgelegt. Pay-per-use-Modelle weisen in der Regel nur diesen Kostenblock auf. 

  • Projektdienstleistungen
    Einen wesentlichen Anteil an den externen Kosten nehmen Projektdienstleistungen ein für das Einrichten des Systems. Diese "Starthilfe" ist aufgrund der Komplexität moderner ERP-Software zwingend. Mit Try-and-Error sein Implementierungsglück zu versuchen, ist wenig aussichtsreich. Zu den Projektdienstleistungen zählen z.B. ein detailliertes Realisierungskonzept, Systemprototyp (Testsystem), Datenübernahme, Anwenderschulung, Systemanpassungen, Zusatzprogrammierungen und Schnittstellen. 

  • Systemumgebung
    Sofern das ERP-System nicht als Software as a Service über die Cloud (SaaS) bezogen wird, braucht es eine entsprechende Infrastruktur. Benötigt werden Server, Clients (PC, Notebook, mobile Geräte), Drucker, Netzwerkkomponenten, Datensicherung, USV-Anlage, Brandschutz usw.

  • Updates
    Ein ERP-System wird aufgrund veränderter Anforderungen oder Funktionserweiterungen laufend weiterentwickelt. Eine regelmässige Aktualisierung der eingesetzten Softwareversion durch Updates ist sinnvoll. Dafür notwendige Investitionen sollten nicht allzu lange aufgeschoben werden. Erstens verpasst man viele Neuheiten, und zweitens ist es weder günstiger noch einfacher, ausgelassene Releases später nachzuziehen.
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Auch interne Ressourcen haben ihren Preis

Jeder Unternehmer wird es als seine Pflicht ansehen, dem Nutzen auch die volle Kostenwahrheit für die Einführung eines ERP-Systems gegenüber zu stellen. Viel zu oft geht dabei vergessen, dass die Einführung eines ERP-Systems auch die Ressourcen im eigenen Unternehmen beansprucht. Das Tagesgeschäft kann ja nicht einfach pausieren. Mit einer deutlichen Mehrbelastung während der Implementierungs- und Startphase ist zu rechnen. Dies kann dazu führen, dass die Produktivität während der „heissen“ Phase abnimmt. Was das kostet, lässt sich im Voraus nur schwer bestimmen. Eine sorgfältige Vorbereitung und laufende Kommunikation helfen, Beeinträchtigungen zu minimieren. Trotzdem braucht es natürlich auf Anwenderseite viel Manpower für eine erfolgreiche Einführung.

 

Anwender sollten sich darauf einstellen, dass einiges an internem Aufwand auf sie zukommt wie zum Beispiel:
  • Datenbereinigung/-migration
    Mit dem neuen System wird man nicht auf der grünen Wiese beginnen wollen oder können. Es muss mit vorhandenen Daten gefüttert werden. Dabei sorgen zwei Bereiche für internen Aufwand in grösserem Mass: die Bereinigung alter "gewachsener" Datenstrukturen (Artikel, Kunden, Zusatztexte, zweckentfremdete Felder) und die Datenaufbereitung für die neuen Systemstrukturen. Hier stellt sich die Frage: Macht man das selber mit internen Ressourcen oder sucht man dafür – sofern möglich – einen Spezialisten?

  • Projektmanagement
    Um das Projekt voranzutreiben und Entscheidungen durchzusetzen, wird ein kompetentes Projektteam benötigt. Die Einführung eines ERP-Systems ist Chefsache, daher ist das Engagement (auch zeitlich) des Managements zwingend. Zudem muss die Leitung der Fachbereiche vertreten sein, damit deren Anforderungen adäquat in das Lösungskonzept einfliessen. Der Aufwand für Besprechungen, Abklärungen, Dokumentation und Diskussion ist von der Komplexität und Grösse des Anwenderunternehmens abhängig. Allein für die interne Projektleitung sollte während der Evaluation und Einführung ein Pensum von 50 – 80 Stellenprozent zur Verfügung stehen. Die oben genannten Teammitglieder sind nicht selten zu 10 – 20 % in das Projekt involviert.

  • Anwenderbetreuung, Schulung, Dokumentation
    Jedes System funktioniert nur so gut, wie es die Anwender verstehen und bedienen können. Das interne Projektteam nimmt dabei eine entscheidende Rolle ein als Coach, Motivator, Trainer, beim Testen, Dokumentieren – und manchmal auch als Prellbock für Frust, Ängste und Ärger der Anwender. Dazu braucht es (Arbeits-)Zeit. Und diese ist ja bekanntlich Geld.

  • Systembetreuung
    Ist das Projekt abgeschlossen, braucht es weiterhin jemanden, der sich um das System kümmert. Die Business Software zu betreiben und aktuell zu halten ist ein permanenter Prozess, eingebettet in das dynamische Umfeld des Unternehmens. Neue Funktionen, aber auch neue Kundenwünsche erfordern eine laufende Schulung und Beschäftigung mit dem System.

Nutzenpotenzial von ERP-Systemen

Die Einführung eines ERP-Systems bietet immer „das volle Programm“– verursacht Kosten, bietet aber auch ein grosses Nutzenpotenzial. Gut gepflegt, ist ein ERP eine Investition, welche lange hält und einen echten Mehrwert schafft. So anspruchsvoll die Implementierung auch ist, übertreffen die Vorteile den Aufwand bei weitem. Transparente, durchgängig verfügbare und rückverfolgbare Informationen beschleunigen Entscheidungsprozesse und erhöhen die Agilität eines Unternehmens. Aktuelle, aussagekräftige Kennzahlen liefern die Grundlage für eine rasche Strategieumsetzung und die Optimierung von Abläufen. Die zentrale Datenbasis vereinfacht die innerbetriebliche Zusammenarbeit und reduziert damit Prozesskosten.

 

Dass der Appetit beim Essen kommt, gilt auch für ERP-Systeme: Sobald man sich an das neue Paar Schuhe gewöhnt hat, wächst die Freude, neue Möglichkeiten und Ziele zu entdecken. Dieser "kreative" Erweiterungsprozess ist gut und richtig, doch sollte dabei stets das Kosten-Nutzen-Verhältnis im Auge behalten werden.

 

Autor:


Dr. Marcel Siegenthaler (†)
war Partner der schmid + siegenthaler consulting gmbh und unterstützte Unternehmen als Leiter von topsoft Consulting bei der Evaluation und Einführung von Business Software.